KALENDER 2020 für die Familie Lienhard der Lienhard Stiftung
Rainbow / Text: Ursula Badrutt
Wir kommen und wir gehen. Das ist der Lauf des Lebens. Auch die Frau kommt und geht. Sie kommt im weissen Kleid, unbefleckt, bar- und leichtfüssig. Und gleich schon beginnt das Drehen, im Sinne des Uhrzeigers. Die Zeit läuft. Wasser rinnt über Gesicht und Körper. Allmählich zeichnen sich Spuren ab. Sind es Einwirkungen von aussen? Von innen? Es ist ein Zusammenspiel von beidem. Das dem Körper Mitgegebene und das von aussen Einflussnehmende schreiben sich sichtlich in den Auftritt ein. Immer deutlicher tritt das Besondere zu Tage, immer weiter dreht sich die Frau, dreht sich dieses Leben. Ein ganzes Jahr lang, Tag für Tag ein Stück weiter. Blau, Lila, Gelb, Grün - die Farbflächen wachsen an, ein Stück Regenbogen bleibt im Gewebe hängen. Der Farbverlauf wird Jahresverlauf, eine Zeitmessung als Daumenkino. Der 366 Seiten dicke Blätterblock verdünnt sich über die Tage, der Film wird kürzer, die Zeit weniger.
Andrea Vogel ist eine Meisterin im Ausdenken raffiniert einfacher Konstellationen. Wir können die Situation ohne weiteres erfassen, und dennoch warten wir gespannt auf den Moment, wo die Inszenierung in ihr Gegenteil kippt, wo Transformationen passieren, wo Weisses bunt wird und Voluminöses kompakt, Hartes weich und Schönes schaurig. Das kann bei Objekten sein wie den Fenstergittern im Projektraum Nextex in St.Gallen im Sommer 2019, die Andrea Vogel kurzerhand von ihrer ursprünglichen Aufgabe befreit und in Sitz- und Liegegelegenheiten verwandelt hat. Was ursprünglich vor dem Eindringen Unberechtigter bewahrte, lädt neu zum Eintreten und Zeit Verbringen ein. Oft sind die Werke performativen Ursprungs. Und oft bedient sich die gelernte Textildesignerin Stoffe als Arbeitsmaterial und reflektiert damit Fragen zu Mode und Schönheit. Im enganliegenden Kleid und Stilettos bewegt sie sich über einen Steg, der dem "Lauf der Dinge" von Fischli/Weiss entstiegen sein könnte. Jede Anstrengung im anspruchsvollen Balanceakts steckt sie weg. Und macht gerade dadurch das Prekäre erlebbar.
Oder sie nutzt das eigene Kleid als Leinwand und den präparierten Körper als Malwerkzeug. Andrea Vogel führt uns die Geschichten hinter der Oberfläche vor Augen, spielerisch, neugierig, mit Lust aufs Experiment. Und schenkt damit Erkenntnisse als Bereicherung, Momente des Glücks wie das Aufscheinen eines Regenbogens.